Der Uroboros heißt eigentlich „Schwanzfresser“ und das Symbol des Verdauungstraktes beherrscht diese ganze Stufe. Die Sumpfstufe des Uroboros und des frühen Matriarchats, ist eine Welt, in der ein Wesen das andere auffrisst. Der Kannabalismus ist ein Symptom des Tatbestandes. Auf dieser Ebene, die prägenital ist, weil in ihr das Geschlechtliche noch nicht wirksam, die Gegensatzspannung der Geschlechter noch nicht sichtbar geworden ist, gibt es einen Stärkeren, d.h. den Fressenden, und einen Schwächeren, d.h. Gefressenen. In dieser tierischen Welt steht die Bauchpsychologie des Hungers im Vordergrund. Hunger und Nahrung sin die ersten Beweger der Menschheit. Der Sein-Werde-Bezirk der menschlichen Existenz gruppiert sich hier um die Funktionen des Nahrungstraktes. Essen=Aufnehmen, Gebären=Ausstoßen, Nahrung als einziger Inhalt, Genährtwerden als Grundform des vegetativ-animalischen Lebens ist das Motto. Leben = Machthaben = Essen, als früheste Form, sich einer Sache zu bemächtigen.
Am Anfang steht die Vollkommenheit, die Ganzheit. Wenn unser Bewusstsein mit seiner erkenntniskritischen Resignation die Frage nach dem Anfang als unbeantwortet und deswegen als unwissenschaftlich zu bezeichnen sich bemüht, so mag es Recht haben, aber die Seele, unbelehrbar und unberirrbar durch die Selbstkritik des Bewusstseins, stellt diese Frage als eine ihr wesentliche immer von neuem. 

Als Kreis, Kugel, Rundes ist es das in sich Geschlossene, das ohne Anfang und Ende ist; in vorweltlicher Vollkommenheit ist es vor jedem Ablauf, ewig, denn für seine Rundheit gibt es kein Vorher und kein Nachher, d.h. keine Zeit, kein Oben und kein Unten, d.h. keinen Raum. All das kann erst mit der Entstehung des Lichts, des Bewusstseins, auftreten, das hier noch nicht vorhanden ist; hier herrscht noch die nicht aus sich herausgetretene Gottheit, deren Symbol deswegen der Kreis ist. 

Tiefe, Abgrund, Tal, Urgrund aber auch das Meer und Meeresgrund, Brunnen, See und Teich, ebenso wie Erde, Unterwelt, Höhle, Haus und Stadt, sind Teile des Archetyps. Alles Umfassende, Große, das Kleines enthält, umgibt, schützt, nährt, gehört zum urmütterlichen Bezirk. Diesem mütterlichen Uroboros gegenüber empfindet sich das menschliche Bewusstsein als embryonal, denn das Ich erfährt sich diesem Ursymbol gegenüber als völlig enthalten. Es ist ihm gegenüber das Kleine, Spätere und Machtlose. 

Die Welt wird erfahren als Umschließendes, in dem der Mensch nur hin und wieder und nur momentweise sich als sich selbst erfährt. So erfährt der Frühmensch die Welt: klein, schwach und viel schlafend, d.h. meist unbewusst, schwimmt er im Instinktiven wie das Tier. Geborgen, getragen und gehalten von der Großen Mutter Natur, die ihn wiegt und der er ausgeliefert ist im Guten wie im Bösen. Nichts ist selber, alles ist Welt. Sie ist bergend, nährend und der Mensch nur selten wollend und tuend. Hier ist der Uroboros der mütterlichen Welt Leben und Seele in einem, es gibt Nahrung und Lust, schützt und wärmt, tröstet und verzeiht. Er ist die Zuflucht alles Leidenden, die Sehnsucht alles Begehrenden. Denn immer wieder ist die Mutter die Erfüllende, Spendende und Helfende. 

Der Uroboros-Inzest ist eine Form des Eingehens in die Mutter, des sich mit ihr Vereinigens, die im Gegensatz zu anderen und späteren Formen des Inzests steht. Die Große Mutter nimmt das Kindlich-Kleine in sich auf und zurück, und immer wieder steht der Tod im Zeichen des Uroboros-Inzestes, der endlichen Auflösung, der Vereinigung mit der Mutter. Höhle, Grab, Sarkophag und Sarg, sind Symbole dieses Wiederverbindungsritus, der mit der Beerdigung in Embryonalhaltung in den Hockergräbern der Steinzeit beginnt und mit der Aschenurne der Moderne endet. Viele Formen der Sucht und der Sehnsucht meinen diese Rückkehr, den Uroboros-Inzest der Selbstauflösung, von der unio mystica der Frommen bis zum Unbewusst werden wollen des Trinkers und der Todesromantik der Germanen. Der Inzest, den wir als Uroboros-Inzest bezeichnen, ist Selbstaufgabe und Rückkehr. 

Quelle: Erich Neumann - "Die Ursprungsgeschichte des Bewusstseins"